Jenseits der Töne
In unserer Einrichtung leben hörbehinderte, gehörlose, blinde, taubblinde und demente pflegebedürftige Menschen zusammen.
Quelle: Zeitschrift - Altenpflege Aktivieren - Das Magazin für die Soziale Betreuung5.2016 www.aktivieren.net
Der größte Teil unserer Bewohner ist schwerhörig und demenziell beeinträchtigt. Bevor ich mit Gedanken über die Aktivierung und Freizeitgestaltung von hörbehinderten Bewohnern mache, muss ich mich mit dem jeweiligen Kommunikationsstand des zu Betreuenden befassen. Unter dem Oberbegriff Gehörlosigkeit werden drei verschiedene Gruppen zusammengefasst: Taubgeborene, Späterertaubte und Schwerhörige. Um sich in die Betroffenen einfühlen zu können, möchte ich zunächst die Begriffe erklären.
Taubgeborene
Dazu zählen Menschen ohne Hörerfahrung. Sie haben keine Vorstellung von Geräuschen, Musik oder Sprache. Die Lautsprache lernen Taubgeborene künstlich, ohne Eigenkontrolle und mittels eines mechanischen Artikulationstrainings. Artikulationsvermögen und Wortschatz sind bei Taubgeborenen stark eingeschränkt.
Spätertaubte
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Dazu zählen Menschen, die nach dem dritten Lebensjahr ertaubt sind. Sie hatten schon Hör- und Spracherfahrung. Ihre Sprache ist daher gut verständlich. Je später ein Mensch ertaubt, umso eher kann man einen normalen Wortschatz voraussetzen. Wer im Erwachsenenalter ertaubt, hat häufig Probleme, das Mundablesen zu lernen.
Schwerhörige
Schwerhörigkeit selbst ist keine Krankheit, sondern das wichtigste Symptom eines erkrankten Gehörs. Bei der Schwerhörigkeit unterscheiden wir die Mittelohrschwerhörigkeit, bei der alles leise gehört wird. Im Gegensatz hierzu steht die Innenohrschwerhörigkeit, bei der bestimmte Frequenzen kaum oder gar nicht wahrgenommen werden.
Ursachen von Gehörlosigkeit und Geburtsschwerhörigkeit
- pränatale Ursachen: Darunter fallen Viruserkrankungen der Mutter während der Schwangerschaft, wie Röteln, Meningitis, Masern, Scharlach oder Grippe.
- Perinatale Ursachen (während oder kurz vor der Geburt): Das können Probleme beim Geburtsvorgang beziehungsweise bei Frühgeburten sein, zum Beispiel Verletzungen im Kopfbereich bei der Geburt, Sauerstoffmangel bei Neugeborenen und schwere Neugeborenengelbsucht.
- Postnatale Ursachen: Sie können auftreten als Folgen von Hirnhaut- und Mittelohrentzündung beziehungsweise als Folge von Kopfverletzungen durch Stürze oder Unfälle.
- Vererbung: Gehörlosigkeit kann genetisch übertragen werden.
Bei der Schwerhörigkeit unterschieden wir fünf verschiedene Stufen:
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Normalschwerhörigkeit: Abweichung bis 20 DezibelQuelle: Zeitschrift - Altenpflege Aktivieren - Das Magazin für die Soziale Betreuung5.2016 www.aktivieren.net
- geringe Schwerhörigkeit: Hörverlust über 20 Dezibel, zum Beispiel, wenn das Ticken der Armbanduhr nicht mehr gehört wird
- mittelgradige Schwerhörigkeit: Hörverlust ab 40 Dezibel, wenn die Grundgeräusche in der Umgebung nicht mehr gehört werden, der Arzt verordnet ein Hörgerät
- hochgradige Schwerhörigkeit: Hörverlust von mindestens 60 Dezibel, wenn ein Gesprächspartner nicht mehr verstanden wird
- an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit: Hörverlust von 80 Dezibel, wenn zum Beispiel laute Musik oder laute Straßengeräusche nicht mehr gehört werden
Ursachen von Spätschwerhörigkeit und Ertaubung
- akute Schallleitungsschwerhörigkeit: Diese wird durch eine plötzliche Verstopfung durch Ohrenschmalz oder Fremdkörper hervorgerufen. Ohrfurunkel oder eine akute Mittelohrentzündung können zum Beispiel die Ursache sein.
- akute Schallempfindungsschwerhörigkeit: Diese kann beispielsweise durch ein Hörsturz, durch Medikamente wie Diuretika, Antibiotika, Zytostatika und ähnliche, stumpfes Schädeltrauma, Stromschlag oder durch besonders extreme Stresssituationen hervorgerufen werden.
- chronische Schallleitungsschwerhörigkeit: Sie entsteht durch langsamen Verschluss des Gehörganges durch Ohrenschmalz, chronische Mittelohrentzündungen und Geschwülste im Gehörgang oder im Mittelohr.
- chronische Schallempfindungsschwerhörigkeit: Sie wird durch tägliche mehrstündige Lärmbelastung über 80 Dezibel über mehrere Jahre, durch Stoffwechsel- und Kreislaufstörungen hervorgerufen.
- Altersschwerhörigkeit: sie entsteht aufgrund von Verlust an Hör- und Nervenzellen sowie durch Durchblutungsstörungen des Stützgewebes im Innenohr. Bei der Altersschwerhörigkeit liegt die Einschränkung vor allem beim Hören von hohen Tönen, beim Richtungshören und beim Verstehen des Gehörten vor. Schnelle Sprache erscheint bei altersschwerhörigen Menschen verhallt. Ihre Reaktionszeit auf Ansprache ist verlängert.
Was Hörbeeinträchtigte erleben
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Schwerhörige fühlen sich an Orten mit vielen Nebengeräuschen unwohl. Sie haben das Gefühl, ausgeschlossen zu sein und vereinsamen. Schnell wird ein Schwerhöriger, der Dinge nicht begreift oder nicht auf sie reagiert, weil er nichts hört, als dement abgestempelt. So kann Schwerhörigkeit zum Teufelskreis werden.
Durch die Schwerhörigkeit kann die Kommunikation mit der Umwelt eingeschränkt sein. Worte werden falsch verstanden und führen zu Missverständnissen. Der Schwerhörige wird im Denken, Fühlen und Sozialverhalten behindert. Gesprächspartner sind gereizt, wenn sie viel wiederholen müssen. Der Betroffene schämt sich und wird durch die falsche akustische Wahrnehmung misstrauisch, aggressiv, ängstlich und neigt zu depressiven Verstimmungen. Er resigniert und wird inaktiv. Die Interessen an Freizeitaktivitäten nehmen ab. Neben dem Rückzug sozialer Kontakte erhalten Betroffene keine Anregung mehr, was zu verstärkten kognitiven Abbau führt. Je länger die Situation anhält, umso mehr kommt es aufgrund des Reizsuchverhaltens zu einer Selbststimulation des Gehirns, die zu Symptomen wie Wahnvorstellungen, Desorientiertheit und Angst führen kann.
Marina Göbel, Heim- und Pflegedienstleiterin,
Caritas Wohnpflegeheim St. Lucia Fulda
St.-Vinzenz-Straße 52a
36041 Fulda
www.st-lucia-fulda.de